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Bewaffnete Soldaten gegen Streikende
Dienstag, den 11. November 2008 um 20:54 Uhr
Die Schweiz am Rande eines Bürgerkriegs: Vor 90 Jahren begann der Generalstreik, der vier Tage dauerte und in Grenchen drei Tote forderte. Zwar kapitulierten die Streikenden schliesslich bedingungslos, doch der Streik brachte längerfristig den Arbeitsfrieden in der Schweiz.
Dramatische Szenen spielten sich auf dem Münsterplatz mitten in Zürich am Sonntagnachmittag, 10. November 1918 ab: Trotz Versammlungsverbot fanden sich rund 7000 Personen zu einer Streikkundgebung ein. Bewaffnete Truppen der Armee waren ebenfalls anwesend, erstmals seit ihrer Anwesenheit in Zürich ausgerüstet mit den grauen Stahlhelmen. Als die Demonstranten den Platz nicht räumen wollten und begannen, die Soldaten zu belästigen, räumte die Armee den Platz — gewaltsam und mit Schüssen in die Luft und gegen den Boden. Eine halbe Stunde und 660 verschossene Patronen später waren die Streikenden vertrieben. Bilanz: Abgelenkte Kugeln verletzen vier Demonstranten, ein Schuss aus einer nicht-militärischen Pistole verletzt einen Soldat tödlich.
Streikfreudige Stimmung in der Schweiz
Die Stimmung war aufgeheizt in den ersten Novembertagen 1918, noch bevor der landesweite Generalstreik begann. Die Kriegsjahre hatten die Kluft zwischen Unternehmern, die von Kriegsgewinnen profitierten, und der Arbeiterschaft, die unter zunehmender Armut litten, vergrössert. Die gute Konjunktur und der Aktivdienst machten Arbeitskräfte begehrt. Dadurch stiegen auch die Erfolgsaussichten von Streiks, die ab 1917 stark zunahmen.
Der zweitägige Streik der Zürcher Bankangestellten Ende Oktober 1918 galt einigen Bürgerlichen als Generalprobe für die Revolution. Der Bundesrat beschloss eine bewaffnete Intervention, am 7. November marschierten eidgenössische Truppen in Zürich ein. Empörung war die Reaktion der organisierten Arbeiterschaft. Das Oltner Aktionskomitee (OAK) unter Führung des Sozialdemkraten Robert Grimm rief deshalb einen eintägigen Proteststreik am Samstag, 9. November aus. Das genügte den Zürchern nicht: Sie führten den Streik weiter mit der Forderung, dass die Truppen aus der Stadt abgezogen werden. Bereits am Sonntag kam es zu den erwähnten Auseinandersetzungen auf dem Münsterplatz.
Soziale Forderungen
Das Oltner Aktionskomitee kam unter Druck: Entweder schliesst es sich den Zürchern an, oder es verliert seinen schweizweiten Führungsanspruch über die Arbeiterschaft. Der Entscheid fiel zugunsten eines landesweiten Generalstreiks aus, der auf den 12. November ausgerufen wurde — unbefristet. Zu den Forderungen des Streikkomitees gehörten unter anderem: Neuwahl des Nationalrats im Proporzwahlrecht, die 48-Stunden-Woche, eine Alters- und Invalidenversicherung sowie eine Vermögenssteuer zum Abbau der Staatsverschuldung.
Der Landesstreik mit rund 250 000 Streikenden verlief weitgehend ruhig. Nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften Massnahmen wie Alkoholverbote durchsetzten. In Basel sorgten die Kantonsregierung und die Streikführung sogar zusammen für einen geordneten Ablauf des Streiks. Zu Ausschreitungen kam es an einigen Orten, an denen die Armee aufmarschierte. In Grenchen erschoss eine Patrouille drei Streikende, weil diese die Soldaten mit «Es leben die Bolschewiki» und erhobenen Fäusten anpöbelten. Der Major des betreffenden Füsilierbattallions sagte später aus: «Ich bin überzeugt, dass ich recht getan habe. Einen Schuss in die Luft abzugeben hielt ich nicht für zweckmässig, einmal weil dadurch Unschuldige, z.B. Leute in den Fenstern gefährdet werden, und sodann weil das Schiessen in die Luft den Eindruck gemacht hätte, dass wir Angst haben.»
Bedinungsloses Ende des Streiks
Nach dem ersten Überraschungseffekt, den der Generalstreik hatte, gewann der harte Flügel im Bürgerlichen Lager schnell wieder an Boden. Auch weil der Bund mit Hilfe von Armee oder Studenten wichtige Dienste notdürftig aufrecht erhalten konnte. Der Bundesrat forderte deshalb das bedingungslose Ende des Streiks. Das OAK fürchtete, dass die Armee den Streik niederschlage, und fügte sich schliesslich am Morgen des 14. Novembers. Am nächsten Tag nahmen die Streikenden fast überall ihre Arbeit wieder auf.
Direkte Folgen hatte der Landesstreik in erster Linie für viele Streikende, gegen die ein Prozess eröffnet wurde oder die Sanktionen des Arbeitgebers gewärtigen mussten. Aber der Streik hatte auch arbeitspolitische Folgen. Bereits 1919 wurde die Arbeitszeit auf 48 Stunden wöchentlich verkürzt. Branchenverbände und der Bund zogen neu die Gewerkschaften stärker in Entscheidungsfindungsprozesse ein. Eine Folge des Landesstreiks ist auch der Arbeitsfrieden, der in den 1930er-Jahren zustande kam. Bereits 1919 wollte der Bund eine gesamtschweizerische Friedenspflicht bei Gesamtarbeitsverträgen (GAV) einführen, scheiterte aber noch. Diese Pflicht sah vor, dass Konflikte zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern durch Verhandlungen zu lösen sind, Kampfmassnahmen wie Streiks sind verboten. Der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaften unterzeichneten 1937 das sogenannte Friedensabkommen für die Metallindustrie, das laut Historischem Lexikon der Schweiz fälschlicherweise als Bundesbrief der Wirtschaft in der Schweizer Mythologie verankert ist. Denn ein vollständiger GAV mit Regeln zu Löhnen oder Arbeitszeit wurde erst 1974 eingeführt.
Quellen:
Historisches Lexikon der Schweiz
Willi Gautschi, Der Landesstreik 1918, 1968
Generalstreik 1918 in Grenchen. Dokumentation von Alfred Fasnacht (Museums-Gesellschaft Grenchen)