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Warschau - "Ein absolutes Desaster"
Samstag, den 19. November 2011 um 09:53 Uhr
Interview durchgeführt von der Gruppe KomFort.93 Antifaschisten aus Deutschland wurden bei den Protesten in Warschau festgenommen. In einem Interview schilderte vor kurzem eine der Betroffenen ihre Erlebnisse. Antifaschisten aus der BRD waren nicht unwesentlich bei der Vorbereitung der Proteste in Warschau beteiligt.
Wir hatten die Gelegenheit mit jemandem aus dem Vorbereitungskreis zu sprechen.
Ulrike: Einige Einzelpersonen der ALB und von Siempre Antifascista pflegen schon seit längerem Kontakte zu polnischen Antifas. Bereits in den letzten Jahren sind immer wieder einzelne von uns am 11.11. nach Warschau gefahren, um sich den Nazis in den Weg zu stellen. Eine organisierte Anreise hat es bis dahin nicht gegeben. In diesem Jahr wurden wir von Genossinen und Genossen aus Warschau angefragt, gemeinsam zu den Blockaden des Bündnisses „Porozumienie 11 Listopada“ zu mobilisieren.
Anliegen war es nicht nur die Aktion am Tag selbst personell zu unterstützen, sondern bereits im Vorfeld durch Infoveranstaltungen auf das offensichtliche Naziproblem in Polen aufmerksam zu machen. Dazu fand eine Veranstaltung zum Thema „Nationalismus, Antisemitismus, Homophobie – Die Rechte in Polen“ mit ca. 150 Leuten statt; eine weitere zum Naziaufmarsch selbst war mit 120 Leuten in Berlin ebenfalls gut besucht. Die Genossinnen und Genossen aus Polen waren dankbar für die Aufmerksamkeit. Auch Jacek Purski von Nigdy Wiecej, einem zivilgesellschaftlichen Verein, der sich gegen Rassismus im Fußball engagiert, betonte, dass sich die Antifaschistinnen und Antifaschisten in Polen jahrelang allein gelassen gefühlt hatten und nun froh seien, dass ihr Anliegen auch über die Grenzen hinaus Gehör findet.
Die Vertreterinnen und Vertreter des Blockadebündnisses waren hoch erfreut über das Interesse der Teilnehmenden. Auf den Infoveranstaltungen wurde durchaus vermittelt, was für Schwierigkeiten es sowohl auf der Anreise als auch am Tag selbst geben könnte. Die Presse hetzte bereits im Vorfeld gegen eine bevorstehende “Invasion der Deutschen”, Nazis und rechte Hooligans spekulierten in Foren über die Anreise und riefen ganz klar dazu auf, die Angereisten platt machen zu wollen. Daher lag der Fokus der Vorbereitungen darauf, eine sichere Anreise zu ermöglichen. Dies war auch der Grund für die nicht öffentliche Mobilisierung, die auch ausdrücklich von den Genossinnen und Genossen vor Ort gewünscht gewesen war. Gemeinsam mit Ex-Warschauern, die jetzt in Berlin leben, fand sich ein überschaubarer Kreis zur Organisation der Anreise.
KomFort: Abgesehen davon, dass es euch durch die Mobilisierung nach Warschau gelungen ist, Aufmerksamkeit auf das virulente Naziproblem in Polen zu lenken. Was hast du erlebt und welches Fazit würdest du ziehen?
Ulrike: Der Tag war ein absolutes Desaster. Bereits auf der Hinfahrt wurden die Busse dreimal kontrolliert und konnten erst mit fast vierstündiger Verspätung in Warschau sein – und das mit massiver Begleitung von 12 Einsatzfahrzeugen der polnischen Polizei. Da in den Bussen keinerlei Waffen gefunden worden waren gab es wohl auch keinen Grund, diese nicht weiter fahren zu lassen. Ursprünglich war geplant, sich weiter außerhalb zu treffen und dort Zeit für ein Frühstück sowie ein Briefing über die aktuelle Situation zu haben. Durch die Verspätung entschied man sich dazu, in dem näher an den Blockaden gelegen Kulturzentrum Nowy Wspanialy Swiat einen kurzen Stopp einzulegen und dann gemeinsam zu den Blockaden zu gehen.
Überrascht waren einige von uns über das Auftreten hauptsächlich jüngerer Antifas, die komplett in schwarz und schwerst vermummt auf die Straße drängten. Offensichtlich hatten sie keine der vorherigen Veranstaltungen besucht und sich auch im Vorfeld nicht selbst informiert. Oft genug hatten wir darauf hingewiesen, dass eine Konfrontation mit polnischen Nazis mitunter mit Schwerverletzten endet, dass diese zu Tausenden in der Stadt sein würden und dass auch die Polizei sicherlich nicht zimperlich mit aus Deutschland angereisten Antifas umgehen würde.
Auf den zuvor ausgeteilten Stadtplänen war ersichtlich, dass wir uns mitten in der Innenstadt befanden und noch 20-30 Minuten Fußweg zu den Blockaden vor uns hatten. Wir als Organisatorinnen und Organisatoren sahen uns in diesem Moment trotzdem in der Pflicht, den Zug zu begleiten. Da ich ganz vorne lief, konnte ich nicht erkennen was hinter mir passiert. Durch das Megafon wurde mehrmals zu besonnenem Verhalten aufgerufen und dazu, sich ruhig zu den Blockaden zu bewegen. Unser Ziel war an diesem Tag ganz klar, sich an den Blockaden zu beteiligen. Auch der Aktionskonsens wurde im Vorfeld kommuniziert. Relativ schnell wurden wir von ungefähr einer Hundertschaft Polizisten aufgehalten. Die meisten flüchteten zurück in das Café. Mir gelang es, dieses durch einen Hinterausgang zu verlassen. Als es von Genossen per Telefon hieß, man würde lediglich unsere Personalien aufnehmen wollten, ging ich zurück um das zu kommunizieren und eine weitere Betreuung zu gewährleisten.
Dieser naive Schachzug wird definitiv auf die Liste der größten Fehler meines Lebens gesetzt. Was während der Haft geschah, ist ja größtenteils bekannt: Schläge für einen Großteil der männlichen Verhafteten, späten bzw. bis zu Entlassung gar keinen Kontakt zu Anwalt, Botschaft oder Angehörigen, verbale Demütigungen und Erniedrigungen und das teilweise mehrmalige komplett Ausziehen, Schlafentzug durch stundenlanges Rumsitzen in der Wanne bei offener Tür, Musik und hellem Licht, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Währenddessen gelang es 10.000 Nazis, die Straßen für sich zu gewinnen. Sie konnten sich in Warschau austoben. Die Blockaden, deutlich kleiner als im letzten Jahr, wurden erneut Ziel von massiven Angriffen seitens der Rechten. Nicht zuletzt kann die Polizei 104 Datensätze abgreifen und einige von uns werden sich wohl über einen längeren Zeitraum mit Verfahren plagen müssen. Trotz alledem: Respekt an all diejenigen, die die Blockaden ermöglicht und verteidigt haben. So konnten die Nazis zumindest nicht die geplante Route laufen!
KomFort: Trotz nun internationaler Beteiligung weniger bei den Blockaden. Wie ist das möglich?
Ulrike: Offensichtlich hat die massive Hetzkampagne in den polnischen Medien funktioniert. Wir werden in den nächsten Wochen die Ereignisse aber auch noch weiter aufarbeiten und werden dann sicher zu etwas detaillierteren Ergebnissen kommen.
Komfort: Wie müssen wir uns die Zusammenarbeit mit den polnischen Genossen vorstellen? Vor welchen Problemen standet ihr dabei und wie sieht es jetzt nach den Ereignissen aus?
Ulrike: Die Zusammenarbeit mit den Genossinen und Genossen aus Warschau lief im Vorfeld trotz Kommunikationsschwierigkeiten durch die räumliche Distanz sehr gut. Bereits im Vorfeld waren einige von uns immer wieder in Warschau gewesen, auch um Erfahrungen von den Blockaden aus Dresden weiter zu geben. Wir hatten das Gefühl, durchaus willkommen zu sein. Das Verhältnis ist jetzt natürlich gestört. Das Auftreten einiger an diesem Tag war nicht unbedingt zuträglich für das Klima untereinander. Verantwortlich dafür, dass so viele von uns einkassiert wurden, sind aber immer noch die Bullen und die rechten Medien, die dieses Vorgehen vorangetrieben haben. Die polnischen Medien berichteten bereits am Folgetag des Naziaufmarschs davon, dass „die Deutschen“ im Zuge der Randale am 11.11. festgenommen worden seien. Dass dies eine blanke Lüge darstellt ist, da sich ein Großteil der Reisegruppe schon Freitag Mittag um 12 in Haft befand, fiel zunächst nicht auf. Die Bemühungen des Bündnis „Porozumienie 11 Listopada“ im Vorfeld fanden in der Presse kaum Erwähnung, die Bilder der marodierenden Nazihorden in Warschaus Innenstadt wurden genutzt, um von „Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten“ zu sprechen. Die polnischen Medien und Politiker hatten für die Ausschreitungen an diesem Tag ihren Sündenbock gefunden. Umso trauriger ist es für uns als diejenigen, die gekommen sind, um die Blockaden gegen die Nazis zu unterstützen, auch von Leuten aus dem Bündnis für das Desaster des Tages verantwortlich gemacht zu werden. 150 „Deutsche“ haben weder 10.000 Neonazis nach Warschau gebracht, noch ist das gesamtgesellschaftliche rechte Klima in Polen exportiert worden. Im letzten Jahr machte man nach den erfolgreichen Blockaden Antifaschistinnen und Antifaschisten aus Polen für Ausschreitungen verantwortlich – in diesem Jahr war es auch dank der Medienhetze im Vorfeld sehr einfach: Man brauchte einfach nur abzuwarten bis aus der Gruppe „der Deutschen“ heraus irgend etwas passiert. 93 Menschen zum Teil länger als 2 Tage in Haft zu behalten, weil es ein Scharmützel am Rande gab, ist eine riesengroße Sauerei. Und natürlich werden wir eine Sammelklage gegen die Haftbedingungen prüfen.
Komfort: Da kommen ausgerechnet Deutsche um gegen einen Naziaufmarsch in Warschau zu protestieren. Hat euch die heftige Reaktion überrascht?
Ulrike: Das Problem war uns im Vorfeld bewusst und wurde im Zuge der Vorbereitungen immer wieder thematisiert und auch nach außen kommuniziert. Anscheinend gab es nicht bei allen Beteiligten einen sensiblen Umgang mit den historischen Begebenheiten und daraus resultierenden massiven antideutschen Ressentiments, die natürlich auch gezielt von rechtskonservativen Kräften geschürt werden. Kaczynskis Vergleiche des Charakters der angereisten Antifaschistinnen und Antifaschisten mit denjenigen, die Hitler damals den Weg geebnet hatten, scheinen in Polen nicht besonders Anstoß zu erregen. Es hätte im Vorfeld eventuell auch in der Presse klarer öffentlich kommuniziert werden müssen, dass wir nicht kommen, um Polen zu überfallen, sondern dass wir anreisen, um gemeinsam mit dem Bündnis den Naziaufmarsch zu blockieren. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit diesbezüglich war aber von den Genossinen und Genossen vor Ort nicht erwünscht, um das Thema nicht noch weiter anzufachen. Wir wissen, dass Hooligans an Rastplätzen auf uns warten wollten. An einem unserer Busse wurden auf der Rückfahrt aus Böllern gebastelte „Sprengsätze“ gefunden. Bisher hatte ich mich in Warschau immer willkommen gefühlt – an diesem Tag hatte ich zum ersten mal Angst in dieser Stadt. Das Problem ist nicht nur der Hass auf Deutsche, sondern allgemein ein rassistisches, xenophobes Klima. Dabei gibt es seit vielen Jahren auch im antifaschistischen Bereich eine Zusammenarbeit über die Landesrenze hinweg wie z.B. gemeinsame Fahrten zu Gedenkstätten und Veranstaltungen zur historischen Aufarbeitung deutscher Verbrechen im NS.
KomFort: 10.000 Nazis – das ist eine echte Hausnummer. In der Bundesrepublik gelang es in den letzten Jahren, teils durch staatliche Verbote, aber auch vor allem durch antifaschistisches Engagement, zu erreichen, dass Großaufmärsche von Neonazis der Vergangenheit angehören. Das Konzept der Massenblockaden scheint momentan die richtige Strategie zu sein, um Naziaufmärsche zu verunmöglichen oder stark zu behindern. Auch in Greifswald hatten wir damit Erfolg. Welche Rolle spielte das für den 11.11?
Ulrike: Im letzten Jahr wurden wir eingeladen, um über unsere Erfahrungen aus Dresden zu berichten. Die Idee zu den Massenblockaden war allerdings auch in Warschau schon vorher geboren worden. Zunächst einmal handelt es sich um ein völlig anderes Bündnis. Eines war dem Aufmarsch in Warschau und in Dresden gemein: Von den Bürgerinnen und Bürgern wurde er nicht als Naziaufmarsch wahrgenommen. In Warschau ist der von Rechtsradikalen organisierte Marsch am 11.11. als „Unabhängigkeitsmarsch“ auch im bürgerlichen Lager akzeptiert. Dabei finden an diesem Tag etliche andere Veranstaltungen statt, die nicht von Nazis organisiert und besucht werden. Es gibt also für Bürgerinnen und Bürger keinen Grund, sich ausgerechnet an dieser Demonstration zu beteiligen, die offen antisemitisch, rassistisch und homophob auftritt und neonazistische Schlägertrupps hofiert. Die Ausgangsbedingungen waren allerdings ganz anders: Während es in Dresden einfacher war, die Nazis zu entlarven und die Zivilgesellschaft in die Proteste mit einzubeziehen, konnten die Antifaschistinnen in Warschau kaum auf bestehende Strukturen wie Vereine und Organisationen, aber auch linke Parteien oder Gewerkschaften zurückgreifen. Die Liste der Unterstützerinnen und Unterstützer in diesem Jahr ist lang, aber es handelt sich größtenteils um kleine Gruppen aus völlig unterschiedlichen Spektren, die ihrerseits aber jeweils auf unterschiedliche Art und Weise von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind. So zum Beispiel die junge jüdische Gemeinde oder Gruppen aus dem LGBT-Spektrum. Auch das Blockadekonzept war dem in Dresden nicht gleich. Die Blockaden wurden zwar auch von angereisten Antifaschistinnen und Antifaschisten unterstützt (übrigens auch aus anderen Ländern), aber es gab kein groß angelegtes Buskonzept.
KomFort: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für euch für das nächste Jahr?
Ulrike: Viele derjenigen, die am Wochenende in Warschau waren, waren geschockt. Diejenigen hinter Gittern über das Vorgehen der Polizei, diejenigen auf den Straßen über die Horden von Nazis und die krassen Krawalle im Anschluss. Auf die Blockaden wurde mit Pflastersteinen und Gehwegplatten geworfen und die Blockierenden standen zwischenzeitlich unter Dauerbeschuss von Feuerwerk. Vielleicht gerade deswegen sehen viele die Notwendigkeit, die Genossinnen und Genossen vor Ort weiterhin zu unterstützen. Auf welchem Weg das erfolgt, ist allerdings noch offen und hängt natürlich auch von dem ab, was vor Ort gewünscht ist. Wir erhoffen uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit im Kampf gegen Nazis über Staatsgrenzen hinaus.