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Russische Neonazis wollen „nationale Revolution“
Freitag, den 14. Mai 2010 um 18:13 Uhr
Zunächst eine gute Nachricht: Die Zahl Überfälle russischer Skinheads und Neonazis auf Studenten aus Afrika und Gastarbeiter aus dem Kaukasus oder Mittelasien geht weiter zurück. Nach dem vom Moskauer Sova-Analyse-Zentrum (1) vorgelegten Jahresbericht 2009 gab es in Russland im letzten Jahr 71 Tote und 333 Verletzte in Folge rechtsradikaler und rassistischer Gewalt. 2008 waren es noch 110 Tote und 487 Verletzte gewesen, wobei Sova erklärt, dass es bei den rassistischen Überfällen noch eine Dunkelziffer gibt.Die Neonazi-Szene kann nicht mehr ungehindert agieren. Seit Mitte 2008 wurden mehrere Skinhead-Gruppen in Moskau und St. Petersburg vor Gericht gestellt. Nach dem Jahresbericht 2009 stieg die Zahl der wegen rechtsradikaler Gewalt Verurteilten von 26 (2004) auf 127 (2009). Die Zahl der Personen, die wegen „schüren von Hass“ gegen Nicht-Slawen verurteilt wurden, erhöhte sich von drei (2004) auf 48 Personen (2009).
Einschüchterung und Mord
Nach den Analysen des Sova-Zentrums stieg jedoch die Militanz der rechtsradikalen Gruppen.
Allein im letzten Jahr gab es 20 Anschläge auf Polizisten und Ermittler sowie auf Wehrämter und andere staatliche Institutionen, erklärt Galina Koschewnikowa, die Autorin des Jahresberichts, die selbst schon mehrfach Morddrohungen erhielt. Die Neonazis hätten ihre Strategie geändert, schreibt die Expertin. Sie hätten begriffen, dass es unrealistisch sei, alle Ausländer aus Russland zu vertreiben. Hauptziel sei nun „die Destabilisierung der politischen Situation“ mit dem Ziel einer „nationalen Revolution“.
Antistaatlich agiert die Neonazi-Szene allerdings schon seit Längerem. Im Juni 2004 wurde der Völkerkunde-Professor Nikolai Girenko, welcher Gerichts-Gutachten für den Prozess gegen die Skinhead-Gruppe „Schulz 88“ erstellte, mit einem verkürzten deutschen Mauser-Gewehr aus dem Zweiten Weltkrieg durch die eigene Wohnungstür erschossen. Wegen diesem und anderen Morden stehen in St. Petersburg zur Zeit 14 Mitglieder der Gruppen „Schulz 88“ und „Mad Crowd“ vor Gericht.
Ein anderes Beispiel für die antistaatliche Strategie der Neonazis: Im Dezember 2008 fand man in einem Müllcontainer direkt vor einem Moskauer Bezirksamt den Kopf eines ermordeten Tadschiken. In einem Bekennerschreiben, welches Zeitungsredaktionen zuging, drohte eine bis dahin unbekannte „Kampforganisation russischer Nationalisten“ der russischen Beamtenschaft mit Gewalt, wenn der Zuzug von Ausländern nach Russland nicht gestoppt werde.
„Rache“ für getöteten Neonazi-Führer
Die bisher wenig in Erscheinung getretene Gruppe NS-WP (Nationalsozialismus-Weiße Macht), die sich selbst als eine terroristische Speerspitzen der russischen Skinhead-Bewegung versteht, fährt eine Doppelstrategie: Man verübt Anschläge auf Ausländer und staatliche Einrichtungen als Racheakte für die staatliche Verfolgung der eigenen Leute.
Den Mord an dem Ghanaer Solomon Attengo Gvadjo, der im Dezember 2010 von zwei Jugendlichen mit Messern überfallen wurde, stellt ein vermummter Sprecher der Gruppe in einer Videobotschaft auf der Website hxxp://ns-wp.ws als Rache-Akt für den Tod des „Mad-Crowd“-Führers Dmitri Borowikow dar. Der 21jährige war im Mai 2006, nachdem er sich bei seiner Verhaftung angeblich mit einem Messer wehrte, durch eine Polizeikugel getötet worden und wird seitdem in der Neonazi-Szene als Held verehrt, der „im Kampf“ gestorben sei.
Ideologische Eckpfeiler: Heidentum und „Neue Rechte“
Zu den ideologischen Eckpfeilern der russischen Skinhead-Szene gehört die Grundannahme, im Kreml sitze ein vom Westen gesteuertes „Okkupations-Regime“, welches die Rohstoff-Ausbeutung Russlands organisiere. Schon die Oktoberrevolution sei eine „jüdische Verschwörung“ gegen das russische Imperium gewesen. Wegen ihrer Ablehnung des Christentums (Christus war ein Jude) orientieren sich die russischen Skinheads auf vorchristliche, heidnische Traditionen aus Russland und Deutschland.
Zurück zur NS-WP. Diese Untergrund-Organisation, deren Website auf der Pazifik-Insel West-Samoa registriert ist, sieht sich selbst als Avantgarde der St. Petersburger Skinhead-Szene und verzichtet auf jegliches Werben um die einfachen Bürger, wie es etwa die „Bewegung gegen illegale Migration“ (DPNI) oder die Organisation „Russkij Obras“ („Russische Art“) tut. Auf der Website der NS-WP walzt die Gruppe eine verschrobene Avantgarde-Theorie aus. Die Russen seien „eine Nation unterjochter Menschen und entarteter Slawen“, heißt es dort. Die Russen seien durch jahrzehntelange KGB-Unterdrückung verängstigt und interessierten sich nur „fürs Fressen“. Die Russen müssten durch slawische Kampf-Gruppen „befreit“ werden. „Das Einzige was die Russen lenkt, ist Angst. Der der stärker ist, der ist der Herr der Russen.“ Mit Terror-Akten will NS-WP den Staat zu schwächen, um dann selbst über die verängstigten und tatenlosen Russen zu herrschen. Das klingt verrückt, gibt aber offenbar intellektuell angehauchten Neonazis das nötige ideologische Rüstzeug für ihre Bluttaten.
Zu den Gruppen, die sich um ideologische Aufrüstung der Skinhead-Szene sorgen, gehört auch die St. Petersburger Gruppe Volniza. Die Website der Gruppe (hxxp://volniza.info/) versteht sich als „nichtkonformistisches, anti-systemisches Internet-Journal“. Dort werden aktuelle und historische Texte von europäischen „Neuen Rechten“ wie Francois Dupra, ex-Trotzkist und Mitgründer der Nationalen Front in Frankreich, Nationalrevolutionären wie Horst Mahler, ehemals RAF, und Nationalbolschewisten wie Ernst Niekisch (bis 1926 SPD-, später SED-Mitglied) veröffentlicht.
Überraschende Verhaftungen
Anfang Februar 2010 wurden in St. Petersburg überraschend vier Neonazis, darunter zwei Mitglieder der NS-WP, verhaftet. Gegen die vier laufen jetzt Strafverfahren wegen Bombenanschlägen und Morden an Gastarbeitern. Der 20jährige Walentin Mumschijew aus dem Gebiet Tjumen und der 19jährige Georgi Timofejew aus St. Petersburg, sind nach Angaben der Ermittler Mitglieder der NS-WP und werden des Mordes an dem Ghanesen Solomon Gvadjo verdächtigt. Außerdem sollen sie Beiden am 2. Februar 2010 einen Anschlag auf einen Reperatur-Zug auf der Strecke St. Petersburg-Moskau verübt haben, bei dem ein Gleis zerstört und der Zugführer verletzt wurde. Auf der Website der NS-WP drohte eine vermummter Sprecher mit Weihnachtsmann-Mütze in einer „Sondermitteilung“ mit Vergeltung für die Verhaftungen.
Außer den beiden NS-WP-Mitgliedern wurden noch zwei junge Petersburger, Igor Grizkewitsch und Wladimir Smirnow, verhaftet. Die Beiden 21jährigen sollen für mindestens drei Bombenanschläge auf Läden und Wohnungen von Gastarbeitern aus dem Kaukasus und Zentralasien in St. Petersburg verantwortlich sein.
Grizkewitsch und Smirnow gehörten früher zur inzwischen verbotenen „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE). Heute sind sie Mitglieder der Gruppe „Warjag“, einer Abspaltung der „Slawischen Union“. Der Name „Warjag“ bezieht sich auf die Waräger, skandinavische bewaffnete Männerbünde, die vom achten bis zum 12. Jahrhundert in Russland lebten.
Pilotprojekt „Komitee 19. Januar“
Immerhin hat das Ausmaß des Nazi-Terrors nun dazu geführt, dass sich die politische Szene, die sich als antifaschistisch versteht, und sich beim Schutz vor den Neonazis nicht auf den Kreml verlassen will, das erste Mal auf eine große, gemeinsame Aktion verständigt hat, was in Russland wegen dem weit verbreiteten und lange kultivierten Sektierertum einer kleinen Revolution gleichkommt. Allerdings waren im letzten Jahr auch fünf Antifaschisten von Neonazis ermordet worden, was gemeinsames Handeln geradezu erzwang.
Die erste gemeinsame Aktion waren zwei Trauerkundgebungen am ersten Jahrestag des Doppelmordes an dem linken Anwalt Stanislaw Markelow (34) und der auf Antifaschismus spezialisierten Journalistin Anastasia Baburowa (25), die am 19. Januar 2009 demonstrativ am helllichten Tage Mitten in Moskau von einem maskierten Killer erschossen wurden. Die Täter sollen Neonazis sein. Sicher ist das jedoch nicht. Zu den beiden Trauerkundgebungen am 19. Januar 2010 kamen insgesamt 1.000 Teilnehmern, was für russische Verhältnisse ein sehr gutes Ergebnis ist. Eine Demonstration wurde von der Stadtverwaltung nicht zugelassen. Viele der Kundgebungsteilnehmer trugen einen Mundschutz. Die Aktivisten hatten Angst fotographiert zu werden, denn russische Neonazis führen im Internet „schwarze Listen“ mit Fotos und Wohnadressen ihrer Gegner.
Die öffentliche Trauer war von einem überparteilichen „Komitee 19. Januar“ organisiert worden. Zu der Aktion hatten auch bekannte Künstler aufgerufen, wie der Regisseur Jewgeni Mitta und der Rock-Musiker Andrej Makarewitsch („Maschina Wremini“).
An der Aktion nahmen Antifa-Jugendliche, Anarchisten, unabhängige Linke und Liberale teil. Das breite politische Spektrum mag für deutsche Leser erstaunlich sein. Doch die Opposition wird durch verschiedene Maßnahmen des Staates derart behindert, dass sich die einzelnen Gruppen, um überhaupt in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, für bestimmte Aktionen zusammenschließen.
Demonstrationsverbote, wie das vom 19. Januar 2010 werden die jugendlichen Antifaschisten vermutlich radikalisieren. Denn es ist zu offensichtlich, dass der Staat mit unterschiedlicher Elle misst. So wird jedes Jahr am 4. November in Moskau und etwa zehn anderen Städten ein von Neonazis organisierter „Russischer Marsch“ genehmigt, wo aggressiver Ausländerhass und auch der Hitler-Gruß gezeigt wird. 2009 genehmigte die Stadtverwaltung einen „Russischen Marsch“ mit 3.000 Teilnehmer im Stadtteil Lublino und danach ein Konzert der Neonazi-Rock-Gruppe „Kolowrata“ auf dem Moor-Platz, in Sichtweite des Kreml. Zu dem Konzert kamen 2.000 Personen.
Rache für verurteilte Neonazis?
Im Mord-Fall Markelow/Baburowa gibt es jetzt erste Ermittlungserfolge und ein Strafverfahren. Im November letzten Jahres wurde der vermutliche Mörder und seine Helferin festgenommen. Es handelt sich um den Historiker Nikita Tichonow, Mitglied der Organisation „Russki Obras“ („Russische Art“) und seine Freundin, die Journalistin Jewgenija Chasis, welche Markelow beschattet haben soll. Bei der Durchsuchung der Wohnung wurde nach einem Bericht der Nowaya Gazeta ein ganzes Waffenarsenal gefunden. Nach der Verhaftung war Tichonow geständig, widerrief seine Aussage aber später. Seine Freundin Chasis bestreitet jede Tatbeteiligung. Galina Koschewnikow vom Sova-Zentrum hält es für möglich, dass Markelow von Neonazis ermordet wurde, weil er mehrere Rechtsradikale hinter Gitter brachte.
Weiße Wölfe verurteilt
Eine von einem Georgier geführte Bande russischer Jung-Nazis erhielt wegen Mord in sechs Fällen Strafen zwischen sechs und 23 Jahren.
Am 25. Februar 2010 verkündete ein Moskauer Geschworenengericht das Urteil gegen neun jugendliche Mitglieder der Neonazi-Bande „Weiße Wölfe“. Die Angeklagten wurden wegen Mord aus Ausländerhass zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und 23 Jahren verurteilt. Das Gericht tagte seit Oktober vergangenen Jahres unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Anführer der Bande, der 18jährige Georgier Alexej Dschawachischwili, mit dem Spitznamen „Dschawa“, wurde nur zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt. Dschawa, der aus einem alten georgischen Adelsgeschlecht stammt, bestritt vor Gericht, dass er der Führer der Bande sei. Dem Georgier werden zwei Morde zur Last gelegt, den übrigen Angeklagten zwischen einem und neun Morden.
Die Bande „Weiße Wölfe“ wurde am 20. April 2007, dem Tag von Hitlers Geburtstag gegründet. Ziel der Gruppe, zu der Jugendliche im Alter zwischen 18 und 22 Jahren gehören, war die Jagd nach Gastarbeitern mit nichtslawischem Äußeren, insbesondere Tadschiken, Usbeken und Kirgisen. Die Gastarbeiter wurden abends überfallen und mit Messer und Schraubenziehern traktiert. Dabei schrieen die Nazis populäre Parolen wie „Russland den Russen!“ und „Moskau den Moskauern!“. Einem Opfer wurden 79 Stiche beigebracht.
Als das Urteil verlesen wurde, weinten einige Angeklagte zusammen mit ihren Eltern, andere beschimpften leise die Richter. Von elf Morden konnten die Geschworenen den Angeklagten nur sechs Morde nachweisen. Drei Angeklagte erklärten die Geschworenen für unschuldig. Keiner der Angeklagten rückte während des Prozesses von den eingestandenen neonazistischen Ansichten ab. Nicht alle Mitglieder der Bande konnten gefasst werden. Bei fünf Banden-Mitgliedern gelang es den Ermittlern nicht, die Namen festzustellen.
Die Staatsanwälte äußerten in Gesprächen mit einzelnen Journalisten, man habe den Verdacht, dass hinter den Mitgliedern der Bande „Weiße Wölfe“ Erwachsene stehen. Deshalb wurde der Fall an das zentrale russische Ermittlungskomitee zur weiteren Untersuchung übergeben. Die Anwälte der Angeklagten haben erklärt, dass sie die Urteile anfechten werden. Die Staatsanwaltschaft hat sich noch nicht endgültig zu dem Urteil geäußert.
Gefahr wird klein geredet
Mit ihren Straßenaktionen gegen Neonazis stören die jungen Antifaschisten das staatliche Antifaschismus-Konzept, welches sich auf historische Themen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges beschränkt. Dass sich in Russland heute eine neue Nazi-Ideologie breit macht, versuchen die offiziellen Stellen klein zu reden.
Unterdessen greifen Kreml-nahe Jugendorganisation wie die „Junge Garde“ Stichworte der Neonazis auf, wenn sie Kampagnen machen mit Parolen wie „Unser Geld – für unsere Leute“ und damit die ausländerfeindliche Stimmung im Land anheizen. In einzelnen Fällen kommt es auch zur direkten Zusammenarbeit von Neonazis und staatlichen Einrichtungen. So veranstaltete das Katastrophenschutzministerium in St. Petersburg im Dezember 2010 einen Kampf-ohne-Regeln-Sportwettbewerb, an dem zahlreiche Rechtsradikale teilnahmen. Die hielten Transparente mit Aufschriften wie „Halte das Blut sauber!“ Niemand schritt ein.(1) Seit sechs Jahren dokumentiert das Sova-Analyse-Zentrum (http://sova-center.ru/194F418) rechtsradikale Gewalt in Russland. „Sova“ heißt übersetzt „Eule“. Der Sova-Jahresbericht 2009 wurde finanziert von: National Endowment for Democracy (USA), Soros Foundation (USA), Helsinki-Komitee (Norwegen), Außenministerium Großbritannien, Präsident der Russischen Föderation.
Text: Ulrich Heyden ist Moskau-Korrespondent und berichtet für die Sächsische Zeitung, der Freitag und Die Wochenzeitung.
Quelle: Antifaschistisches Infoblatt (AIB)
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