Zwei Generationen feierten friedlich
Bereits am Samstag fand in Thun der 1.-Mai-Umzug mit anschliessenden Festreden auf dem Rathausplatz statt. Die «Raumfänger» folgten dem Aufruf des Organisationskomitees, an der 1.-Mai-Feier offiziell mitzumachen
Die roten Flaggen der Gewerkschaft Unia dominierten den
1.-Mai-Umzug, den Takt gab der Musikverein Thun in den grünen Uniformen
an, und den Schluss machte die Gruppe «Raumfänger, Aktion für ein
freies T(h)un» mit der vorherrschenden Farbe Schwarz. Auf mitgeführten
Plakaten forderte die Unia «Gleichen Lohn für gleiche Arbeit» und
«Personenfreizügigkeit nur mit GAV». Der friedliche Umzug folgte dem
traditionellen Weg durch die Innenstadt und endete auf dem Rathausplatz
– mit einem kleinen Unterschied: Die 1.-Mai-Feier fand bereits am
Samstag, 30. April, statt. Gabriela Bernet-Moser vom
Organisationskomitee der 1.-Mai-Feier in Thun erklärte den Anwesenden
den Grund für die vorgezogene Feier: «Mit der diesjährigen 1.-Mai-Feier
wollten wir speziell die Jungen ansprechen.» Diesem Aufruf folgten die
jungen Mitglieder der «Raumfänger», die am 1. Mai im letzten Jahr von
der Stadt Thun ein Demonstrationsverbot aufgebrummt bekamen und vom
Organisationskomitee nur dem Frieden zuliebe toleriert wurden.
Gewaltige Umverteilung
Höhepunkt der Festreden auf dem Rathausplatz war der Auftritt von
SP-Präsident Hans-Jürg Fehr. Er sprach über die hohen Managerlöhne von
Daniel Vasella und Oswald Grübel. Deren Saläre sind laut Fehr bis zu
drei Millionen Franken pro Jahr angestiegen. Das stehe im Gegensatz zu
den sonst stagnierenden oder gar sinkenden Löhnen, und er bezeichnete
dies als «gewaltige Umverteilung von unten nach oben». Die Schweiz habe
von ganz Europa das tiefste Wirtschaftswachstum. Schuld daran sei das
Nein zum EWR im Jahr 1992. «Diesen Fehler kann man wiederholen oder
nicht», kommentierte er die bevorstehenden Abstimmungen über die
Schengen/Dublin-Vorlagen vom 5. Juni und die Personenfreizügigkeit. Er
sprach sich klar gegen eine Abschottung und einen Alleingang aus, der
ins totale Abseits führe.
Gesamtarbeitsverträge
Der Thuner Grossrat Martin von Allmen sprach über die
Gesamtarbeitsverträge in der Maschinenbau- und der Baubranche. Die
Baumeisterverbände fordern die Abschaffung von den Mindestlöhnen und
eine Jahresgesamtarbeitszeit, was laut von Allmen zum Beispiel das
Arbeiten an einem Samstag ohne Bewilligung ermöglichen würde. Er
verlangte, Widerstand zu leisten, und zwar nicht nur am 1. Mai, und
erst recht, wenn dieser noch an einem 30. April gefeiert werde. «Wir
müssen wieder lernen, zu streiken!», forderte er am Schluss.
«Festung Europa»
Obwohl Alte und Junge in gemeinsamer Sache durch die Stadt gezogen waren und sich zusammen auf dem Rathausplatz niedergelassen hatten, interessierten sie sich wenig füreinander. Die Mitglieder der «Raumfänger» kümmerten sich kaum um die Reden der Politiker. Im Gegenzug applaudierte die ältere Generation auch nur spärlich nach der Rede von Bernhard Schneider, der die «Raumfänger» vertrat. Er sprach von der «Festung Europa», die Überwachungssysteme mit Fichierungen und Bespitzelungen hervorbringe. Soziale Probleme können nicht mit Repression gelöst werden, und deshalb sprach er ein klares Nein zu Schengen/Dublin aus. Nach den Reden ging die Feier auf dem Rathausplatz mit Essen von ausländischen Spezialitäten, Folklore aus Ex-Jugoslawischen und den Bands Loose Connection und Tight Finks weiter. Anita Bachmann